Urlaub fällt aus. Ein Artikel für alle, die was dagegen tun wollen.

Maximilian Speicher
8 min readFeb 21, 2025

--

Rain on a windowpane.
Photo by C. G. on Unsplash

Auf der Carrer de Còrsega in Barcelona liegt ein kleines Café, das ich oft in der Mittagspause besuche, nur fünf Minuten von unserer Wohnung entfernt. Wie an den meisten Tagen ging ich auch eines schönen Mittwochs im November dorthin. Das Wetter war gut, die Vorhersage auch, ich war im T-Shirt unterwegs, mein Buch unterm Arm. Es waren eineinhalb Wochen vergangen seit der verheerenden Flut, die Valencia verwüstet und über 200 Todesopfer gefordert hatte — gefühlt um die Ecke. Ich hatte noch keine 10 Seiten in meinem Buch gelesen, als es von einer Minute auf die nächste stockdunkel wurde und anfing, Sturzbäche zu regnen. Auf der Straße neben dem Café bildete sich innerhalb von Sekunden ein Bach, der schnell zu einem veritablen Flüsschen anwuchs. Besorgt dreinschauende Fußgänger suchten im Café Zuflucht. Meine Mittagspause war fast um, aber an nach Hause gehen war nicht zu denken. Als der Regen nach einer Viertelstunde zumindest etwas nachließ — und von leichter Gewissenhaftigkeit geplagt — watete ich schließlich durch fast knöchelhohes Wasser zu meinem nächsten Meeting.

Eine knappe Woche später, Carrer de Bailèn, Barcelona: Ich saß nichts Böses ahnend an meinem Schreibtisch und arbeitete, als mein Handy einen durchdringenden Ton von sich gab, den ich so noch nie gehört hatte — eine alerta presidencial, eine Warn-SMS mit der Anweisung, die Wohnung für die kommenden drei Stunden nicht zu verlassen. “Lluvia torrencial.” Zum Innenhof hin hat unsere Wohnung eine Art kleinen Wintergarten. Also schnappte ich mir meinen Laptop, um beobachten zu können, was draußen los war. Es dauerte in der Tat nicht lange, bis es markerschütternd donnerte und die sintflutartigsten Regenfälle einsetzten, die ich je gesehen hatte — und ich war schon einmal während des Monsuns in Indien! Meine Freundin hatte sich, aufgeschreckt vom Donner, mittlerweile zu mir gesellt. Wir beobachteten gebannt den Wasserfall, der sich auf einem benachbarten Dach gebildet hatte und den stetig steigenden Pegel auf der Terrasse unter unserer Wohnung, die Bilder aus Valencia noch frisch im Gedächtnis. Weltuntergang mit Panoramablick — so fühlte es sich an. Videos vom überfluteten Flughafen Barcelona und Nachrichten von spanischen Freunden, die uns fragten, ob wir in Sicherheit seien, trudelten auf unseren Handys ein.

Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich wirkliche, echte Angst vor der Natur.

Der Regen dauerte zum Glück nur gut eine statt der angekündigten drei Stunden. Sonst wäre aus Barcelona das nächste Valencia geworden. Wir hatten schweinisches Glück. Nur eineinhalb Wochen später erreichten uns wieder fast dieselben Videos. Erst aus Málaga, dann aus Sizilien. Und im Dezember auch noch aus Rhodos. Im Januar dann wieder aus Sizilien. Die Bilder sprechen für sich. Wer sie noch nicht gesehen hat, wird schockiert sein, was man bei Google unter “Flut Valencia” findet.

Ich bin in Wehbach im Westerwald aufgewachsen. Als der mittlerweile braune und spärliche Wald noch grün und dicht war, baute ich dort als Kind Baumhäuser und trank als Jugendlicher heimlich mit Freunden Colabier. In meiner Liebe zu Spanien bin ich, denke ich, typisch deutsch. Meine Eltern machten früher Lloret de Mar unsicher und ich bin immer gerne nach Palma und Barcelona geflogen, bevor es meine Freundin und mich beruflich hierher verschlug. Leben, wo andere Urlaub machen — ich kann mich wahrlich nicht beklagen. Im vergangenen Jahr gab es hier allerdings nur zwei Zustände: 1. monatelange Dürre, bis der tägliche Wasserverbrauch eingeschränkt werden musste, oder 2. Wassermassen, die das Ende der Welt vermuten ließen. Nun sind die Spanier längere Zeiträume mit extrem wenig Regen durchaus gewohnt und exzellent darin, das zu managen, aber alle, wirklich alle, mit denen wir hier sprechen, sind sich einig: vergangenes Jahr war nicht normal. Die Dürren waren nicht normal und der Regen war nicht normal. Niemand kann sich daran erinnern, diese beiden Phänomene jemals in solcher Häufigkeit und Intensität erlebt zu haben. “So etwas habe ich noch nie gesehen”, sagt etwa unser Nachbar Antonio, der sein ganzes Leben hier verbracht hat, in seiner üblichen Mischung aus Katalanisch und Spanisch.

Natürlich kann niemand die Zukunft vorhersagen. Vielleicht war vergangenes Jahr einfach besonders extrem und dieses wird wieder besser. Das ist eine der Möglichkeiten. Genau so möglich ist aber, dass dieses Jahr wieder so wird oder es sogar noch schlimmer kommt. Wir haben hier bisher von niemandem gehört, “früher war der Sommer auch mal trocken” oder “früher hats auch mal feste geregnet”. Die Leute merken, dass irgendetwas nicht stimmt. Dass die Natur versucht, uns etwas zu sagen. Dass wir zumindest versuchen sollten, etwas zu ändern. Dass wir nicht einfach so weitermachen können wie bisher.

Wenn man sich eine Taktik für ein Fußballspiel zurechtgelegt hat und zur Halbzeit mit 0:5 hinten liegt, weiß man, dass man mit großer Wahrscheinlichkeit nicht einfach so weiterspielen sollte, selbst wenn man nicht exakt weiß, was genau man anders machen muss. Vielleicht war die Halbzeit nur Pech; vielleicht könnte man einfach alles so lassen und noch zum Ausgleich kommen oder sogar gewinnen. Aber etwas Anderes zu versuchen ist vermutlich die bessere Option. Das versteht jeder intuitiv, und vor allem jeder Fußballtrainer. Also ändert er die Formation und wechselt einige Spieler aus, basierend auf den Informationen, die er zur Verfügung hat. Wenn man sich anschaut, was in 2024 passiert ist, dann liegen wir 0:10 zurück. Das ist Pi mal Daumen die Anzahl außergewöhnlich schwerer Fluten — und das nur in Europa. Und viele deutsche Politiker sind der Ansicht, dass wir einfach so weiterspielen sollten. Ganz bestimmt geht es noch 11:10 aus.

Man kann an diesem Punkt natürlich einwenden, “was hat denn eine deutsche Bundestagswahl mit Spanien zu tun?” Die Antwort ist: alles. Europa ist wahnsinnig klein, man muss sich nur einmal eine Landkarte anschauen. Alles in Europa ist verknüpft — kulturell, ökologisch, wirtschaftlich — und das nicht nur durch die EU. Nationale Politik reicht offiziell nur bis zur nächsten Landesgrenze, ihre Auswirkungen aber reichen weit darüber hinaus und haben einen Einfluss auf ganz Europa; in vielen Bereichen sogar auf die ganze Welt. Nur ein konkretes Beispiel, das vielen nicht mehr im Gedächtnis haftet, aber nicht an Relevanz verloren hat: Tschernobyl. Schlechte Politik, die zu maroden Kernkraftwerken führt, schert sich nicht um Landesgrenzen. So, wie eine Bundestagswahl Spanien beeinflusst, beeinflusst eine spanische Parlamentswahl übrigens auch Deutschland — ob man das will oder nicht. Dafür ist Europa einfach zu klein.

In mindestens 39 der letzten 42 Jahre ist Deutschland übrigens konservativ und/oder neoliberal regiert worden (Gerhard Schröder ist ein lupenreiner Neoliberaler). Konservative Politik heißt “weiter so”. Neoliberale Politik heißt “der Markt regelt alles”. Aber das Paradoxe ist, dass wir an einem Punkt sind, an dem wir mit bloßem Auge sehen können, wie sich die Welt immer schneller und drastischer verändert; an dem Produkte und Dienstleistungen immer schlechter, dafür aber auch immer teurer werden (man vergleiche einfach einmal seinen Wocheneinkauf von heute mit dem von vor 10, 20 oder 30 Jahren); an dem ernsthaft über eine 6-Tage-Woche und die Rente mit 70 diskutiert wird. Da wurde weder konserviert noch hat der Markt irgendwas geregelt. Da liegt der Schluss sehr nahe, dass wir Dinge ändern statt beibehalten müssen, um weiterhin so angenehm leben zu können wie bisher — auch, wenn das erst mal komisch klingt. Und hier geht es eben nicht darum, keinen Urlaub mehr machen zu dürfen oder Plastikstrohhalme zu verbieten. Das macht den Bock nicht fett. Jeder, der hart arbeitet, soll in seinen wohlverdienten Urlaub fliegen. Keine Partei wird das je verbieten (können).

Aber ob die Urlaubsorte, die wir so lieben, dann noch da sind, das wird in der Tat an der Politik liegen, die wir wählen. Meine Freundin und ich bereiten uns nach diesem Jahr ernsthaft auf eine Zukunft vor, in der wir im Sommer mit vielleicht drei Eimern Wasser pro Tag werden auskommen müssen und regelmäßig finanzielle Schäden durch Fluten haben werden, auch, weil Versicherungen das irgendwann nicht mehr decken werden (können). Freunde im Süden Spaniens und auf Mallorca gehen vom Selben aus. Allein die Flut in Valencia hat bereits Schäden in Höhe von 30 Milliarden(!) Euro verursacht, und es wird Monate dauern, die Stadt wieder in einen halbwegs annehmbaren Zustand zu versetzen. Über Versicherungsprämien spricht man mit den Leuten dort besser gar nicht erst. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das auch in Barcelona und Palma passiert (und dann in Italien und Griechenland und Kroatien und …). Wir waren schon 2024 verdammt nah dran. Und dann fallen Bummeln auf den Ramblas und Cocktails schlürfen am Ballermann wortwörtlich ins Wasser.

Wenn wir grundlegend unsere Politik ändern, haben wir eine weitaus größere Chance, unsere Leben einfach so weiterleben zu können wie bisher. Es ist nicht intuitiv, aber die einzig logische Schlussfolgerung. Nochmals: Das Problem sind dabei natürlich nicht die Menschen, die einfach nur ihren Urlaub in Spanien genießen wollen. Das Problem sind die Menschen mit den Privatjets — unter ihnen ja übrigens viele Spitzenpolitiker — , die sich ungefähr so sehr dafür interessieren, wie es in Barcelona oder auf Mallorca aussieht, wie für die Pünktlichkeit des R9. Und wenn Sylt auch noch weggespült wird, fliegen sie einfach da hin, wo die Welt noch in Ordnung scheint. Ein Luxus, den wir uns alle nicht leisten können. Vor allem, wenn unser Auto mal wieder davon geschwommen ist (siehe Valencia).

Der nächste Einwand muss jetzt sein, dass 2021 ja schon eine andere Politik gewählt wurde und die Ampel-Koalition es nicht geschafft hat, die Dinge zu verbessern. Also bringt das ja auch alles nichts, oder? Ich gebe zu, es fällt mir schwer, dagegen zu argumentieren, dass die Ampel keinen guten Job gemacht hat. Allerdings würde ich gerne einwenden, dass 1. die Koalition es wirklich schwer hatte, weil insbesondere die neoliberalen Kräfte wichtige Reformen blockiert haben (Stichwort “D-Day”-Affäre) und 2. vier von fast 40 Jahren eine verdammt kurze Zeit sind. Ich möchte gern die Koalition sehen, die es schafft, den Kurs, den konservative und neoliberale Politiker jahrzehntelang verfestigt haben, innerhalb von nicht einmal einem Zehntel der Zeit merklich und nachhaltig zu korrigieren. Zählt man noch eine Pandemie (inkl. davon getriebener Inflation) und einen Krieg in Europa dazu, hatte die Ampel eigentlich von Anfang an kaum eine Chance. Um zur Fußballanalogie zurückzukehren: Wenn man zur Halbzeit mit 0:10 hinten liegt und dann neue Spieler einwechselt, wechselt man sie nicht nach fünf Minuten schon wieder aus, weil sie es nicht geschafft haben, den Rückstand aufzuholen.

Wir stehen vor Herausforderungen, die wir alle am eigenen Leib spüren und sehen können: alles wird immer teurer (oder ist bei irgendwem jemals ein Versicherungsbeitrag gesenkt worden?), unsere Wälder sterben und werden abgeholzt, unsere Urlaubsorte werden weggespült. Alles deutet darauf hin, dass das die Folgen der Politik sind, die seit Anfang der 80er gemacht wurde: konservativ und neoliberal. Doch anstatt uns in Angst oder Lähmung zu verlieren, sollten wir handeln. Eine andere Politik könnte uns helfen, das zu schützen, was wir lieben. Wenn wir jetzt die Weichen stellen, können wir weiterhin das Leben genießen, das wir uns aufgebaut haben. Daher müssen wir jeder Form von rückwärtsgewandter konservativer oder neoliberaler Politik eine Absage erteilen. Sonst leben wir bald in einer Welt, in der es keine Orte mehr gibt, an die es sich zu fliegen lohnt. ■

--

--

Maximilian Speicher
Maximilian Speicher

Written by Maximilian Speicher

I write about leadership, strategy, and anything product & UX • Doctor of Computer Science • ex University of Michigan • maxspeicher.com/newsletter

No responses yet